Das Geheimnis einer kleinen Blume, die Evolution des Lebens und des Menschen, die Entwicklung der Evolutionsforschung selbst und die letzten Fragen nach Verlauf und Sinn der Schöpfung – dies sind die anspruchsvoll verfolgten und künstlerisch verwobenen Motive dieses Buches.
Der Autor zeichnet ein anschauliches Bild der modernen Evolutionsforschung, in dem weder ein außerweltlicher Schöpfergott noch das blinde Wirken des Zufalls die Evolution bestimmt, sondern individuelle Entwicklungsfähigkeit, Lernen und Bewusstsein mehr und mehr zu den treibenden Kräften einer intelligenten Selbstentwicklung des Lebens werden.
Am Ende erweist sich das Goethesche Wort „Alle Schöpfung ist Werk der Natur“ als ebenso wissenschaftlicher wie tief mystischer Blick in das Rätsel alles Seins.
Axel Ziemke, geboren 1960 in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), studierte Biochemie und promovierte zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Hegel im Kontext der modernen Systemtheorie. Er war Postdoktorand am Graduiertenkolleg „Kognition, Gehirn, Neurale Netze“ der Ruhr-Universität in Bochum und Mitarbeiter des Instituts für interdisziplinäre Forschung in Österreich. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fach- und Publikumszeitschriften. Axel Ziemke ist heute Lehrer für Biologie, Chemie, Philosophie und Schauspiel an einer Rudolf Steiner-Schule.
Die Drei 11/2015: Die poetisch-anschauliche Beschreibung des unansehnlichen Ackerkrauts Linaria vulgaris in seiner natürlichen Umgebung samt Befruchtungsvorgang durch eine Hummel bildet die Ouvertüre des Buches, im Laufe dessen sich der Autor nach und nach vom kundigen Waldorflehrer zum gut informierten Naturwissenschaftler und schließlich zum fragenden Philosophen metamorphosiert. Denn Linaria mit ihrer löwenmäulchenähnlichen Blüte hat eine fünfstrahlige Variante, von Linné Peloria oder Monsterblume genannt. (Monstrum kann dabei sowohl als Monster als auch als Muster-Beispiel, das etwas de-monstr-iert, verstanden werden.) Rasch wurde sie ein Beispiel dafür, wie die Natur zufällige Variationen zeigt, später Mutationen genannt, die nach Darwin im Kampf ums Dasein einem Selektionsdruck unterliegen. Der am besten Angepasste gibt die entsprechenden Merkmale an die Nachkommen durch die Vererbung weiter – eine natürliche Zuchtwahl. Dieses Modell hat als sogenannter Neodarwinismus das Denken über die Evolution als Produkt von »Zufall und Notwendigkeit« die Evolutionsbiologie im 20. Jahrhundert weitgehend geprägt. Das Modell des DNA-Doppelhelix von Watson und Crick in 1953 und die Forschungstechniken der Genetik und der Molekularbiologie schienen die darwinistische Hypothese zu bestätigen: Zufällige Mutationen im Genom eines Lebewesens führen zu abweichenden Eiweißproduktionen in den Zellen des Organismus, mit der Folge neuer Erscheinungsformen, die dann unter dem Druck von Umgebungsfaktoren herausselektiert werden. Nun aber die Überraschung: Nach dem Stand der modernen genetischen Analyse haben Linaria und ihre abweichende Form Peloria keine unterschiedlichen Genome. Die Unterschiede in der äußeren Gestalt haben also eine andere Ursache. Axel Ziemke versteht die Kunst, den Leser in die Geschichte der Evolutionstheorie, also in die Evolution der Evolutionstheorie selber mitzunehmen und ihre Metamorphosen zu beschreiben. Carl von Linné (1707-1778) verdanken wir die systematische Einteilung des Pflanzen- und Tierreiches, die er noch als von Gott erschaffen erlebte. Johann Wolfgang von Goethe sagte von ihm, er wüsste keinen, nach Shakespeare und Spinoza, der einen größeren Einfluss auf ihn gehabt hätte. Selber wurde Goethe (1749-1832) von seiner anschauenden Urteilskraft geführt zu der Metamorphosenlehre und der Idee der Urpflanze und des Urtieres. Mit Charles Darwin (1809-1882) und Ernst Haeckel (1834-1919) brach die Einsicht durch, dass die Vielfalt der Lebewesen nicht auf einmal oder in einigen Tagen am Anfang der Schöpfung entstanden sei, sondern während einer langen, stufenartigen Evolution von einfachen zu immer komplexeren Lebensformen sich entwickelt hat. Der Mönch Gregor Mendel (1822-1884) formulierte aufgrund seiner Kreuzungsexperimente die Grundgesetze der Vererbung, die dann durch die rasante Entwicklung der Genetik und der Molekularbiologie zu den faszinierenden Entdeckungen führte, bis zur Koevolution (Abhängigkeit verschiedener Organismen voneinander), zur Epigenetik und EcoEvoDevo (englischer Fachbegriff für die Evolutionäre Entwicklungsbiologie, die auch das Lebensumfeld stark mit einbezieht), die Axel Ziemke sachlich kompetent zu einem spannenden Roman zusammenfügt und eigenständig und originell weiterdenkt. Anhand der neuesten Forschungen erscheint ein Bild von der Evolution des Lebens, das den Neodarwinismus hinter sich lässt. Schon die Epigenetik war der Tatsache auf die Spur gekommen, dass der Ausdruck von einzelnen Genen von vielen komplizierten Umgebungsfaktoren (in der Zelle, im Organismus und in der Umgebung des Organismus) abhängig ist und Anpassungen an die Umgebung, Verhaltensweisen usw. vom Genom gespeichert und an die Nachkommen weitergegeben werden können. Die Rolle von zufälligen Mutationen wird dabei in den Hintergrund gedrängt – die meisten sind sowieso kaum lebensfähig. Damit liegt auch dem interessierten Nicht-Fachmann das Bild einer schöpferischen Evolution vor, das, an den unwissenschaftlichen Erklärungsversuchen des Intelligent Design vorbei, zwischen dem biblischen Schöpfungsglauben und der neodarwinistischen Theorie sich einen dritten Weg bahnt und einen Ansatz bildet für neue Metamorphosen, in denen die individuelle Entwicklungsfähigkeit des Lebendigen, Lernen und Bewusstsein mehr und mehr zu den treibenden Kräften einer intelligenten Selbstentwicklung des Lebens werden. Axel Ziemke nimmt eine mutige, goetheanistische Position ein, die an Rudolf Steiners Lebensstimmung am Ende des 19. Jahrhunderts erinnert, als er – im Geiste seiner Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung – sich für die Gedankenwelt Haeckels in Bezug auf die biologische Entwicklung begeisterte. In seinem nach 50 Jahren immer noch lesenswerten Buch Rudolf Steiner und Ernst Haeckel beschreibt Johannes Hemleben eindrucksvoll Steiners streng eingehaltene monistische Weltanschauung, die keine göttlich-geistigen »Eingriffe von außen« duldet und das innere Erlebnis der Freiheit, aber auch die damit verbundene Gefahr menschlicher Hybris ermöglicht. Kurz vor Ende seines Buches bekundet Ziemke: »Nirgends findet sich eine Antwort auf die Fragen nach der Evolution der Lebewesen als in den konkreten Lebewesen selbst. Gene einerseits und Umweltfaktoren andrerseits sind Randbedingungen der sich auf allen Stufen des Lebendigen vollziehenden Selbstorganisation. Eine Selbstorganisation, die eine umso größere Sensibilität einer jeden Lebensform gegenüber ihrer Umwelt bedingt. Randbedingungen, die aber ebenso von dieser Selbstorganisation immer wieder verändert werden. Alles, auch unser eigenes Leben, zwischen Zeugung und Tod und darüber hinaus, hängt mit allem zusammen. Und doch ist da nichts, was eine Richtung von Evolution vorgibt. Kein Gott, keine ewigen Entwicklungsgesetze. Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Jede Lebensform ist der Keim eines Sinnentwurfes. Nichts garantiert, dass er Erfüllung findet. Im Menschen setzt sich diese Sinnsuche fort. Doch spätestens im Menschen gewinnt sie auch die Dimension des Bewusstseins. Mehr oder minder bewusst, zunächst minder, dann immer mehr, wird Bewusstsein zum Evolutionsfaktor« (S. 177f). Damit ist der Ansatz gegeben zu einem weiteren Diskurs über die Frage nicht nur nach dem Bewusstsein, sondern auch nach der Intentionalität, die der Evolution zugrunde zu liegen scheint und jedenfalls in der menschlichen Selbsterfahrung eben zum Bewusstsein kommt. So hat Rudolf Steiner in seiner späteren Forschung den Menschen als Ziel der Evolution dargestellt und z.B. die Tiere als frühere Abzweigungen der »Idee Mensch«, die sich später verkörpert. Die Fragen nach Aszendenz, Deszendenz und Konvergenz in der Evolution und der Entstehung von Form und Gestalt bleiben faszinierend. Ziemke hebt das Bewusstsein als Hauptmotor der kulturellen Evolution hervor, nachdem er die Wichtigkeit des Lernens, erst durch Nachahmung, dann durch Einsicht, als Evolutionsfaktor beschrieben hat. Als jüngstes Ergebnis dieser Kultur wäre dann die Evolution des evolutionären Denkens selber zu sehen, zu dem die biologische Evolutionstheorie nach seiner Einschätzung einen entscheidenden Beitrag geliefert hat. Er fährt dann fort: »Die Evolution erkennt sich selbst, wird sich ihrer selbst bewusst. Im Ansatz schon bei Goethe, spätestens mit der Evolutionären Entwicklungsbiologie wird diese Selbsterkenntnis Bewusstwerdung der autonomen Selbstentwicklung, Selbstorganisation des Lebendigen. Und zwar im Doppelsinn des deutschen Genitivs: Selbstentwicklung durch Bewusstwerdung und Bewusstwerdung, die diese Selbstentwicklung zum Gegenstand hat. Oder in Goethescher Begrifflichkeit: Die Metamorphose des Geistes, die uns die Metamorphosen der Natur erkennen lassen – und die Metamorphosen der Natur, die jene des Geistes erwecken«. An diesem Punkt könnte angesetzt werden, interdisziplinär weiterzudenken und zu forschen, z.B. im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Vertretern der goetheschen Metamorphosen– Idee in der Evolution (Ernst-Michael Kranich, Andreas Suchantke, Wolfgang Schad) oder auch in einem Dialog mit Bernd Rosslenbroichs Begriff der Autonomiezunahme als Modus der Makroevolution oder mit Christoph Huecks Evolution im Doppelstrom der Zeit. Axel Ziemkes monistische Sicht auf die Evolution löst wichtige Empfindungen aus: der Autonomie, der Freiheit, allen voran der Verantwortung, die der Mensch als creatura creatrix, als schöpferisches Geschöpf für die weitere Evolution trägt. Seine Möglichkeit der Selbstbestimmung macht Mut – der seinen Ausgleich in der Demut finden kann. Selbstständigkeit und Verbundenheit, Autonomie und Kommunikation, Produktivität und Empfänglichkeit bilden die ständige Polarität, die in der Evolution zur Steigerung führt und zu neuen Gestaltungen und Verbindungen. Durch alles hindurch webt sich die Frage nach dem Wesen der Intentionalität. Warum gibt es nicht nichts? Wir finden uns vor, aber was fangen wir nun mit uns an? Eine phänomenologische Anthropologie wird auch die Religion, die Suche nach Verbundenheit als Phänomen der menschlichen Evolution und dessen Bedeutung für diese mit in Betracht ziehen, genauso wie den Wissensdrang und das Bedürfnis nach künstlerischem Ausdruck. Axel Ziemke trägt mit seinem anregenden Buch, sprich: mit seiner »Schöpfung als Werk der Natur« zum Austausch und zur Diskussion entschieden bei.