Die Pandemie ist vorbei, das Virus ist geblieben. Drei Jahre Ausnahmezustand liegen hinter uns, die geprägt waren von Ungewissheit, von sinnvollen und sinnlosen Maßnahmen, von Warnungen, Mahnungen und Überspitzungen. Wir sollten diese Zeit nicht einfach verdrängen, sondern sie aufarbeiten, aus ihr lernen und die so gewonnenen Erkenntnisse nutzen, nicht zuletzt, um uns auf zukünftige Pandemien und Krisen aller Art besser vorzubereiten.
„Wir sollten uns der Herausforderung stellen, diese Zeit der sowohl sinnvollen als auch sinnlosen Maßnahmen, der Warnungen, Mahnungen und bisweilen dramatischen Übertreibungen – mit dem Abstand und Wissen von heute – aufzuarbeiten, um daraus zu lernen, damit wir uns auf zukünftige Pandemien und Krisen vorbereiten und sie besser meistern können.“ – Hendrik Streeck
Essenziell für die richtigen Schlussfolgerungen ist eine ergebnisoffene, ehrliche, aber auch konsequente Aufarbeitung und Benennung von Fehlern und Versäumnissen. Dabei geht es nicht darum anzuklagen – es geht um Glaubwürdigkeit. Denn nur so können wir vermeintlich unversöhnliche Positionen auf dem Pfad eines offenen, diskussionsfreudigen und gar versöhnlichen Diskurses zusammenführen.
Das ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische und gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Prof. Dr. med. Hendrik Streeck ist der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Er begann seine medizinische Laufbahn an der Charité in Berlin und promovierte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Von 2006 bis 2009 absolvierte er ein Postdoctoral Fellowship an der Harvard Medical School.
Er war u. a. Assistenzprofessor am Ragon Institute of Massachusetts General Hospital, Massachusetts Institute of Technology und an der Harvard Medical School sowie Leiter der Abteilung für zelluläre Immunologie am US Military HIV Research Program.
2015 folgte Streeck dem Ruf nach Essen, wo er das Institut für HIV-Forschung gründete. Er ist Mitglied der europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie Kuratoriumsvorsitzender der deutschen AIDS-Stiftung.
Er war Mitglied im Corona-Expertenrat des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Bundesregierung. Derzeit ist er Mitglied der Enquete-Kommission II NRW „Krisen- und Notfallmanagement“ sowie des Expertenrats der Bundesregierung zu Gesundheit und gesellschaftlicher Resilienz.
Herr Streeck, gleich zu Anfang die große, unausweichliche Frage: Hätten wir die Pandemie verhindern können?
Mit dieser Frage hat sich das internationale, unabhängige Panel der WHO (The Independent Panel For Pandemic Prepardness & Response) vor ein paar Jahren beschäftigt und dort kam man zu einem klaren Schluss: Ja, es wäre möglich gewesen, die Coronapandemie abzuwenden. Es hätte gelingen können, wenn entschlossenes Handeln erfolgt wäre und ein effektiver Informationsaustausch zwischen den betroffenen Ländern und den relevanten Organisationen, insbesondere zwischen China und der WHO, stattgefunden hätte. Auf diese Weise wäre der Ausbruch im Keim zu ersticken gewesen. Doch solche Überlegungen bleiben hypothetisch. Wichtig ist zu erkennen, dass das Risiko einer neuen Pandemie weiterhin und dauerhaft besteht, vor allem wenn ein Virus von Tieren auf Menschen übertragen wird, es also zur Zoonose kommt. Auch deshalb müssen wir Lehren aus der Coronakrise ziehen.
Der Titel Ihres Buchs lautet „Nachbeben – Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können“. Warum finden Sie es persönlich wichtig, Lehren aus der Pandemie zu ziehen?
Diese Pandemie war weltweit, aber auch für uns in Deutschland ein Jahrhundertereignis. Rückblickend ist es unerlässlich zu hinterfragen, ob wir angemessen reagiert haben. Was waren gute Strategien und welche Fehler haben wir gemacht? Es ist wichtig, aus dieser Analyse Lehren zu ziehen, um in zukünftigen Pandemien oder andersartigen Krisen besser agieren zu können. Während einige behaupten, wir hätten alles richtig gemacht, vertreten andere die Meinung, unsere Reaktion sei überzogen gewesen. In meinem Buch bemühe ich mich, ein ausgewogenes Bild dessen zu zeichnen, was gut verlief und worin wir besser werden könnten, um uns für die Zukunft widerstandsfähiger zu machen, ohne dabei Schuldzuweisungen vorzunehmen. Eine solche offene Analyse schulden wir insbesondere jenen, die unter den Pandemiemaßnahmen gelitten haben – sei es durch Vereinsamung, die Unmöglichkeit, Angehörige in Krankenhäusern oder Pflegeheimen zu besuchen, existenzbedrohende Lockdowns, die Schließung ihrer Betriebe oder Überforderung durch die Impfkampagne. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir zukünftig sowohl Befürworter als auch Gegner der damaligen Maßnahmen einbinden. Ihnen allen gegenüber sind wir eine gründliche Aufarbeitung schuldig, um die während der Pandemie entstandene gesellschaftliche Spaltung zu überwinden.