Der versierte Kunstwissenschaftler und Wahrnehmungsforscher Michael Bockemühl nimmt uns im 15. Band der Reihe KUNST SEHEN mit in die Welt Turners. Eines Künstlers, der seiner Zeit weit voraus war und uns dazu anregt, über das Bild hinaus zu denken.
„Interbrettation“ nannte Michael Bockemühl die Tendenz, Kunstwerke qua Interpretation zu schubladisieren. Denn eine solche Vorgehensweise vernagelt nicht allein die Wahrnehmung, sondern suggeriert auch einen soliden Stand, wo möglicherweise keiner ist. William Turner (1775–1851) war bereits in jungen Jahren Meister der Licht- und Luftperspektive, der akkuraten Zeichnung wie des Atmosphärischen. Er öffnet die Wahrnehmung auf eine Weise, die den Betrachtenden den Boden unter den Füßen wegziehen kann.
„Zu beobachten, wie Turner die Welt durch eine bestimmte Weise der Farbgestaltung bildnerisch zur Erscheinung bringt, kann sich heute zugleich als ein Zugang zu unserem eigenen bewussten Sehen der Welt erweisen. Seine Farbgestaltung gibt Anlass, uns deutlicher bewusst zu machen, wie wir sehen. Sie zu beobachten ist nicht allein für Turners Kunst aufschlussreich. Diese Beobachtungen betreffen zugleich unser Wahrnehmen selbst und führen damit zu den Grundfragen der Ästhetik.”
Michael Bockemühl
Seine Malerei ist weniger vom Gegenstand bestimmt als von der Erforschung der Wahrnehmung, die den Gegenstand in Erscheinung treten lässt. Ohne Goethe gelesen zu haben, dessen Farbenlehre ihm später eine Offenbarung wurde, nutzt Turner die in der Physiologie begründete Tätigkeit des Auges für seine Malerei: Nachbildeffekte durch Farbkontraste etwa lassen einen Sonnenuntergang erlebbar, Feuer spürbar und Wetterphänomene lebendig werden. Die Wirkstrukturen des Auges werden durch den gezielten Einsatz von Farbe aktiv, steigern die Sujets seiner Malerei auf verblüffende Weise und kündigen die Autonomie des Werkes an.